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Wir sind keine Wagnerianer. Vor die Wahl gestellt, in „Rheingold“ oder in ein Konzert von Michael Wollny zu gehen, würden wir uns wohl für Letzteres entscheiden. Dennoch wagnert es momentan bei uns zu Hause. Es wagnert sogar beträchtlich. Und das kam so.
Auf unseren Schreibtischen lagen Briefe von Gabriele D’Annunzio aus Gardone und Cosima Wagner aus Bayreuth. Die Briefe, die Cosima Wagner 1876 im Vorfeld der ersten Bayreuther Festspiele an Rudolph von Liechtenstein (1838-1908) auf Schloss Neulengbach bei Wien schrieb, sind überbordend reich an Atmosphäre:
„Seit zehn Tagen leben wir das absonderlichste Leben dass man sich vorstellen kann, ich möchte es schön finden, wenn die Kraft mir dazu geblieben wäre. Mit der erstaunlichsten Pünktlichkeit sind alle Mitwirkenden eingetroffen, und Probleme welche noch an dem Vorabend der Proben für unlösbar galten, sind in heiterem Enthusiasmus gelöst, wie z.b. das Schwimmende Singen der Rheintöchter, das Klettern des Alberich. Als die erste Arrangir-Probe der Rheinscene vorbei war, brach das zusehende Orchester in einem Jubel aus wie ich es noch nicht, von dem grössten Auditorium gehört. Unbeschreiblich klingt das Orchester, und der blosse Eintritt in das Theater wirkt so magisch, feierlich erhaben, dass wir alle sprachlos ergriffen davon waren.“
Man fiebert mit bei den Proben zu „Rheingold“. Was nehmen sich die kapriziösen Sopranistinnen nur heraus? Wo bleibt die „Sarazenin“? Wie traurig, dass der 32. Sultan der Osmanen Abdülaziz sterben musste, kurz bevor der spendable Sponsor der „erneuerten Olympischen Spiele in Bayreuth“ deren feierliche Eröffnung miterleben konnte! Was tun gegen die Zahnschmerzen und den nervösen Katarrh des „Meisters“, dem weltliche Musikagenten die „Walküre als Cassenstück“ entreißen wollen? Finanzielle Engpässe, Eintrittskarten, Gästelisten, Menupläne, das Heranwachsen der Kinder Blandine, Daniela, Isolde, Eva und Siegfried, deren Väter Hans von Bülow und/oder Richard Wagner waren, all das kommentiert Cosima ausführlich - aber auch ihre eigene Geschichte, das distanzierte Verhältnis zum Vater Franz Liszt und zur Mutter Marie d’Agoult in Paris, von deren Tod die Tochter erst zwei Tage später, am 7. März 1876, durch die Zeitung erfuhr, und über allem immer wieder „sein Wirken, sein Lebensziel“. Die in freundlich-resolutem Ton geschriebenen Briefe lassen keinen Zweifel: Wahnfrieds Genius war „der Meister“, seine Managerin war Cosima.
Und was hat Gabriele d’Annunzio mit all dem zu tun? Er machte aus der ehemaligen Villa von Cosimas Tochter Daniela (verheiratete Thode, geborene von Bülow) in Gardone am Gardasee das „Vittoriale“, dessen absurd-protzige Gartengestaltung – ein in den Berg gerammtes Kriegsschiff – heute noch zu bewundern ist. Zusammen mit ihrem Ehemann Henri Thode bewohnte Richard Wagners älteste Stieftochter seit 1892 die Villa Carnacco, bis beide bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges enteignet wurden, worauf d’Annunzio in die opulent möblierte Villa einzog. Die Bibliothek, der Flügel von Danielas Großvater Franz Liszt, die Teppiche und Bilder waren verloren, ebenso das Porträt von Cosima Wagner, deren Antlitz, wie d'Annunzio schrieb, „die Stille mit ihrem Adlerblick erhellte“. Bis zu ihrem Tode versuchte Daniela vergeblich, mit gerichtlichen Schritten gegen die Beschlagnahmung der Villa vorzugehen. Dass sie sich auch persönlich an d'Annunzio wandte und dieser sich mit schönen Worten aus der Affäre zog, war den Biographen unbekannt - bis dies anhand dieser Briefe von d’Annunzio an Daniela Thode aus den Jahren 1922 und 1923 nachvollzogen werden konnte.
Natürlich wollten wir mehr wissen.
Als Ausgangspunkt wählten wir Cosima Wagners Tagebücher, sodann die drei Biographien von Oliver Hilmes: „Liszt“ (2011), „Herrin des Hügels“ (2007) sowie „Cosimas Kinder und der Wahn von Bayreuth“ (2009). Lesenswerte Einstiegsdrogen in die Wagner-Dynastie, die sich den teils tragischen, teils skandalösen, teils unterdrückten Lebensläufen im Schatten Richard Wagners widmen. Aber war der lange Schatten, war der Gral nicht erst durch die Gralshüterin entstanden? Während Richard Wagner als kinderlieber Familienvater auf Wahnfrieds Teppichen herumtollte, stilisierte ihn seine Frau und spätere Nachlassverwalterin zum „Meister“, zu einer Art übernatürlichem Wesen, dessen musische Weltlehren in ihren Augen und in denen ihrer Nachkommen ewige Gültigkeit besaßen. Dieser These folgt Oliver Hilmes in „Cosimas Kinder“. Das Buch endet dort, wo sich die Gött(er)innendämmerung unter Winifred Wagner fortsetzt. Deren Verhältnis zu Adolf Hitler – wie das ihrer Kinder und Schwiegerkinder – ist bekannt. Nach klaren Auskünften darüber sucht man jedoch in Brigitte Hammans Buch „Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth“ (2002) hinter einer Fülle von Originalzitaten vergeblich. Als ob man nicht wirklich sagen dürfe, dass Wahnfrieds Musikgeschichte auch eine Geschichte des Antisemitismus und des Nationalsozialismus war.
Ganz anders dagegen das fünfstündige Interview von Hans Jürgen Syberberg. Sein Film „Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried“ sorgte 1975 für einen handfesten Skandal plus Familienkrach, worauf Wagner-Enkel Wolfgang der Wagner-Schwiegertochter Winifred Festspielhausverbot erteilte. Syberbergs Regie war so einfach wie genial. Durch die Kunst des Nichteingreifens entstand ein grausam-authentischer Einblick in Winifred Wagners Gedankenwelt: ein Lehrstück deutscher Nachkriegsgeschichte, das den ewiggestrigen Verdrängungskünstlern den Spiegel vorhält. Prädikat: sehenswert.
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