Autographen und Buecher

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Eberhard Köstler

Aus der Blütezeit der Schwabinger Bibliophilie

Büchern bin ich zugeschworen,
Bücher bilden meine Welt.
Bin an Bücher ganz verloren,
Bin von Büchern rings umstellt.

Zärter noch als Mädchenwangen
Streichl’ ich ein geliebtes Buch,
Atme bebend vor Verlangen
Echten Pergamentgeruch.

Inkunabeln, Erstausgaben,
Sonder-, Luxus-, Einzeldruck:
Alles, alles möcht ich haben -
Nicht zum Lesen, bloss zum Guck!

Bücher sprechen ungelesen -
Seit ich gut mit Büchern stand,
Weiss ich ihr geheimstes Wesen:
Welch ein Band knüpft mancher Band!

Bücher, Bücher, Bücher, Bücher
Meines Lebens Brot und Wein!
Hüllt einst nicht in Leichentücher
Schlagt mich in van Geldern ein!2

Ja, auch Bibliophile haben ihre »Hymne«. Karl Wolfskehl (1869–1948) hat sie 1930 gedichtet und sie ist – laut Spielanweisung – auf die Melodie der deutschen Nationalhymne zu singen.

Als dieses Lied zum ersten Male, »aus voller Wolfs-Kehle«, wie der Erstdruck vermerkt, gesungen wurde – es war auf der Jahresversammlung der Gesellschaft der Münchner Bücherfreunde am 5. April 1930 im Hotel Vier Jahreszeiten und der Text lag dort als Einblattdruck aus – da war das nicht nur der Höhepunkt, sondern zugleich bereits auch schon der Abgesang auf die Blütezeit der Münchner Bibliophilie. Die Illustration des seltenen Gelegenheitsdruckes, die Karl Arnold zu diesem Chor der Bücherwürmer von Wolfskehl beigesteuert hatte, spricht für sich. Sie heißt Fortschritt der Technik und zeigt »Carl Georg von Maassen, von Büchern begraben, von denen ein magerer Pegasus futtert. Im Hintergrund Fabrikschornsteine«.3

Und in der Tat: schon bald wurden in Deutschland ganz andere Lieder gesungen, als dieses freundliche, scherzhafte und liebevolle. Sein Dichter, der beinahe »blinde Seher« Wolfskehl wurde zunächst ins Schweizer und italienische, bald darauf gar ins neuseeländische Exil vertrieben, während seine geliebte Büchersammlung nach Palästina wanderte, um dort zunächst Teil der Bibliothek von Salman Schocken zu werden.

Aber wie hatte das alles angefangen, was nun so rasch und so unwiederbringlich zu Ende gehen sollte?

In einer Stadt wie München, die 2008 immerhin ihr 850jähriges Gründungsjubiläum feiert, muß man glücklicherweise nicht bis auf die Römer zurückgehen, um das Phänomen der Bibliophilie in ihren Mauern zu ergründen. Es genügt dazu, einen Blick auf das Ende des 19. Jahrhunderts zu werfen, als München nicht nur eine Vielzahl von Dichtern und Künstlern anzog, sondern diese durch die Zeitschriften Simplicissimus, Jugend und Fliegende Blätter auch fördern und ernähren konnte.

Läßt man aber die Reihe dieser Dichter und Künstler vor seinem inneren Auge Revue passieren, so fällt bald auf, dass es mitnichten eingeborene Münchner waren, welche den inneren Kreis der von hier ausgehenden Buch- und Kunstbestrebungen bildeten, sondern fast durchaus sogenannte Zuag’roaste, Nordlichter also, oder, etwas abschätzig, schlicht Breiß’n. Für alle diese sogenannten Schlawiner bildete aber erst München den geeigneten Nährboden, auf  welchem ihre Bestrebungen gedeihen konnten und von wo aus sie ihren Siegeszug antraten. Es war eben erst die oft beschriebene  besondere Atmosphäre  Münchens,  die  alles  ermöglichte. Aber worin mag diese Atmosphäre des alten München bestanden haben, von der heute nur noch hin und wieder etwas aufblitzt in jenen Momenten, in denen München noch einmal »leuchtet«, wie zu Beginn von Thomas Manns Erzählung Gladius Dei?

Es war das bürgerliche München der späten Prinzregentenzeit, das so viele Künstler und Sammler zu bedeutenden Leistungen inspirierte. Durch die vortreffliche Ausbildung an der Münchner Akademie der bildenden Künste ebenso wie durch weithin berühmte Malerfürsten wie Lenbach und Stuck, daneben durch den überragenden Erfolg der Münchner Landschaftsmalerei hatte sich München zur Hauptstadt der eher konservativen Kunst und des Kunstgewerbes sowie des Kunsthandels aufgeschwungen. Dazu kam der im Vergleich zur preußisch-norddeutschen Ständegesellschaft relativ freizügige und von Zensur und Staatsgewalt stets nur am sehr langen Zügel gehaltene freie Umgang der einzelnen Bevölkerungsschichten, der offenbar dem bohemienhaften Künstlerleben sehr entgegenkam und als vielseitige Inspirationsquelle genutzt werden konnte. München war behäbig, bürgerlich und wohlhabend; ein städtisches Proletariat hatte sich trotz des großen Zuzugs und der teils  bedenklichen  Wohnzustände  in den Vorstädten  wie Au und Giesing  nicht herausbilden können. Dazu kamen die Nähe des bayrischen Oberlandes mit seinen auch in der Residenzstadt München oft sichtbaren biderben Bauerngestalten und die Vorzüge der durch ein dichtes Eisenbahnnetz gut erschlossenen malerischen Umgebung, durch welche man die Vorteile des Landlebens in der Sommerfrische mit der unmittelbaren Nähe zur Hauptstadt gerne verband.

Kein Wunder, dass von allen bedeutenden Künstlern und Schriftstellern um 1900 Photographien in ländlicher Tracht existieren. Am Auffälligsten war vielleicht Wassily Kandinsky, der Entdecker der abstrakten Malerei, in seiner speckigen Lederhos’n und mit Spaten im eigenen Garten zu Murnau. Nur eine Generation früher hatte sich der aus Berlin nach München zugezogene Paul Heyse, der, als er 1910 den Nobelpreis für Literatur erhielt, von den jüngeren bereits mitleidig als altes »Krokodil« belächelt wurde, stirnrunzelnd darüber nachgegrübelt, woher der ungezwungene Verkehr zwischen den einzelnen Volksschichten wohl seine Nahrung erhalten möge. Er präsentiert uns in seinen 1900 entstandenen Jugenderinnerungen eine überraschende Lösung:

Ich habe es stets als eine besondere Gunst meines Geschickes betrachtet, dass mein Leben in jungen Jahren aus dem heimatlichen Berlin nach München verpflanzt wurde […]. Eine Berührung mit dem altbayerischen Stamm […] konnte dem Norddeutschen nur heilsam sein und seine dichterischen Nerven erfrischen […]. Desto liebenswürdiger erschien uns hier im Süden gegenüber der strengen Sonderung der Stände, die in der Heimat herrschte, der freiere Verkehr der verschiedenen Gesellschaftsklassen untereinander an öffentlichen Orten, der schon an Italien erinnerte, […] die demokratisierende Macht des Bieres hatte eine Annäherung bewirkt, […] die Gleichheit vor dem Nationalgetränk milderte den Druck der sozialen Gegensätze […].4

Karl Wolfskehl, von dem später noch ausführlicher zu sprechen sein wird, hat das bestätigt und das Leben in der von ihm so genannten »engen Riesenkleinstadt« geradezu als conditio sine qua non für Geist und Kunst geschildert: »Gerade diese andere Welt, dieses in überkommener, selbstgenügsamer Weise schlechthin existierende, seine ›Königlich Bayerische Ruh‹ eifersüchtig wahrende prächtige Münchner Volkstum war die Grundlage, man möchte sagen der Mutterboden für das andere, das koloniale München, das Geistmünchen.«5

Fast könnte man meinen, das Leben in Bayern und München um 1900 sei so harmonisch verlaufen, wie es uns der Autor der erfolgreichen Fernsehserie vom Königlich-bayerischen Amtsgericht glauben machen will: »Eine liebe Zeit; menschlich halt!« Doch das Idyll trügt: unter der Oberfläche brodelt es und  es ist die von Albert Langen in Paris konzipierte Wochenschrift Simplicissimus, welche die Erschütterungen dank eines hervorragenden Stabes an literarischen, künstlerischen und redaktionellen Mitarbeitern seismographisch registriert.

Die Rolle, welche die Zeitschrift Simplicissimus im Besonderen und der Albert Langen-Verlag im Allgemeinen für die Entwicklung der Literatur und Kunst in München gespielt hat, kann gar nicht überschätzt werden. Alle bedeutenden Schriftsteller  und Künstler  der Zeit  haben für den Simplicissimus  gearbeitet: Thomas Mann,  Jakob Wassermann, Frank Wedekind, Ludwig Thoma, Thomas Theodor Heine, Emil Preetorius, Olaf Gulbransson und viele, viele andere. Manch einer kam nur deshalb nach München, weil Langen und der Simplicissimus Lohn und Brot versprachen.

Was nun Langen und sein Verlag für Literatur und Kunst bedeuteten, war die Münchner Universität gleichermaßen für die Wissenschaften. Durch eine geschickte Berufungspolitik nahm sie um 1900 einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung.

Und wo in der Stadt trafen alle diese kreativen Geister und sprudelnden Phantasten zusammen? Nicht in Sendling, nicht in der Au, nicht im Lehel, nicht in Bogen- hausen, nein: der magische Ort hieß Schwabing. Schwabing bildete den Nährboden auf dem die seltsamsten Spaltpilze gedeihen konnten, darunter auch die spezielle, von Allotria und Gaudium geprägte Münchner Spielart der Bibliophilie und ihrer Vereinigungen.

Schwabing war das – heute legendäre – Münchner Künstlerviertel, »wo Geister noch zu wandern wagen«, wie Stefan George schrieb.6  Münchens Aufschwung hatte zwischen 1890 und 1914 die Bevölkerung von 350 000 auf fast 650 000 anwachsen lassen. Also wurde auch das alte Dorf Schwabing 1891 eingemeindet. Hier gab es billige Wohnungen, gemütliche Wirtshäuser, diskutierfreudige Kneipen, Kabarettbühnen, Privattheater und hübsche Mädchen und so fand die noble Kunststadt München in Schwabing bald den Ort für ihr Künstlerviertel, ihre Bohème, ihren Montmartre. Über Schwabing wurde unendlich viel geschrieben, Schimpf und Lob geben sich die Hand. Für René Prevot war es die »ästhetische Experimentierstation der Kulturstadt München«, für die Gräfin Reventlow »Wahnmoching«, für Ludwig Klages der »Welt-Vorort des Geistes«, für Roda-Roda »Schwabylon« und für Peter Paul Althaus die »Traumstadt«. Dabei gilt gemäß Eugen Roth das »viel strapazierte Wort, dass Schwabing kein Ort sei, sondern ein geistig-seelischer Zustand«, weshalb man auch die Grenzen des Stadtbezirks nicht allzu eng ziehen darf.7

Wer heute das untergegangene Schwabing vor 1933 erforschen will, muß zu dem Adressbuch von Kristian Bäthe8 und zum literarischen Stadtführer von Dirk Heißerer9 greifen. Bäthe verdankt seine Kenntnisse einem Papierkorbfund, der uns mitten in unser Thema führt: im Winter 1956 spielte ihm der Zufall ein Adressbuch in die Hand, welches Rolf von Hoerschelmann ab 1907 geführt hatte. In diesem stattlichen Halbleinenband fand er über 500 Anschriften von Schwabingern, darunter auch diejenigen von Hoerschelmanns bibliophilen Sammlerfreunden.

Schwabing ist also der Ort der bibliophilen Freundeskreise, Klubs und Gesellschaften sowie der Antiquariate, und hier treffen wir auch jene drei besonders typischen Vertreter der »goldenen Zeit der Münchner Bibliophilie«, auf die ich im Folgenden etwas näher eingehen will. Sie sind so etwas wie Atomkerne, um welche die sie umgebenden bibliophilen Elementarteilchen kreisen: es handelt sich um Karl Wolfskehl, Carl Georg von Maassen und eben Rolf von Hoerschelmann.

Karl Wolfskehl (1869–1948)

Karl Wolfskehl, der Sohn des Darmstädter Bankiers und Politikers Otto Wolfskehl, ließ sich nach seinen germanistischen Studien bereits 1898 in München nieder, wo er unter dem Ehrennamen eines »Zeus von Schwabing« bald zum Mittelpunkt der Bohème wurde.

Seit seinen dichterischen Anfängen stand er Stefan George und seinem Kreis sehr nahe, jedoch ohne dass er je zu einem Adepten und bloßen Nachahmer wurde. Im Gegenteil: Wolfskehl, Germanist und Dichter völlig individuellen Zuschnitts, fand einen ganz eigenen Stil und eine ganz eigene Sprache. Seine Werke weisen auf sein großes Ziel hin: die Trennung von jüdischem Erbe und deutscher Kultur aufzuheben.

Sowohl für seine eigenen Werke als auch für seine Arbeit als Herausgeber ließ er sich von der älteren deutschen Literatur inspirieren. Deshalb sammelte er seltene Ausgaben der deutschen Literatur und wurde dadurch wiederum zu einem intimen Kenner seltener Bücher. Das kam ihm denn auch zugute, als der Erste Weltkrieg und die Inflation sein ererbtes Vermögen aufgezehrt hatten. Seine Kenntnisse versetzten ihn in die Lage, 1922 die literarische Leitung der bibliophilen Rupprecht-Presse zu übernehmen,10  1928 in den Beirat des Zeitungsverlags Knorr und Hirth einzutreten und Vorworte oder Beschreibungen für Antiquariatskataloge zu verfassen, wie etwa zur Barockliteratur-Sammlung des Berliner Fabrikantensohns Victor Manheimer (1877–1943). Wolfskehls klassische Kommentare werden ganz zu Recht von Antiquaren bis auf den heutigen Tag gerne zitiert. Die Sammlung Manheimer wurde übrigens 1927 durch die Firma Karl & Faber am Karolinenplatz versteigert.

Im März 1907 gründete Wolfskehl mit gleichgesinnt buchbesessenen Freunden wie dem E.T. A. Hoffmann-Herausgeber Carl Georg von Maassen, dem Literaten und Herausgeber  bibliophiler  Zeitschriften  Franz  Blei  und dem Antiquar  Emil Hirsch die Gesellschaft der Münchner Bibliophilen mit ihren lese-, lebens- und festfreudigen Aktivitäten. Seine zahlreichen Aufsätze und Essays über das Büchersammeln gehören zu den klassischen einschlägigen Texten in deutscher Sprache und zum unveräußerlichen Bestand jedes Bibliophilen. Wolfskehl hat seine in Zeitschriften verstreut erschienenen Aufsätze noch selbst gesammelt und sie 1932 als 51.Druck der Rupprecht-Presse unter dem Titel Bücher Bücher Bücher Bücher. Elemente der Bücherliebeskunst  in Druck gegeben. Als »Biblio-Erotiker« vergleicht er dort den Bücherkult mit dem Frauendienst und den Büchergeschmack mit dem einer Weinzunge. Doch davon später mehr.

1933 floh Wolfskehl vor den Nationalsozialisten zunächst in die Schweiz und dann nach Italien. Für seine wertvolle Bibliothek von 30 000 Bänden hatte er einst absichtlich die Erdgeschoss-Wohnung in der Römerstraße 16 gemietet, weil nur im Parterre, direkt über den festgemauerten Kellergewölben, die Holzböden mit den schweren Bücherregalen nicht durchbrachen. 1937 jedoch musste er seine geliebten Bücher gegen eine Abschlagzahlung und eine Leibrente an den einstigen Berliner Kaufhauskönig Salman Schocken abtreten. Bis 1975 bildete seine Sammlung das Herzstück der von Erich Mendelssohn erbauten Schocken Library in Jerusalem. Dann ließen die Erben alle deutschen Bücher bei Hauswedell & Nolte versteigern und verstreuten so Wolfskehls Bücher in alle Welt.

Nur noch die Versteigerungskataloge, in denen Wolfskehls Bücher mit einem »W« gekennzeichnet sind, sowie ein – 2005 ebenfalls noch versteigerter – maschinenschriftlicher Katalog geben von der einstmaligen Bibliothek Kunde. Wolfskehl selbst ging, finanziell bescheiden genug ausgestattet durch Schockens Leibrente, 1938 – in Folge von Mussolinis Besuch in Deutschland – aus Italien nach Neuseeland, also »so weit weg […], als dies überhaupt auf diesem Kleinplanet möglich ist«, wie er noch 1947 in einem Brief schrieb. Dort starb er 1948 und wir müssen davon ausgehen, dass es nun doch nur Tücher gewesen sind, die seinen Leichnam umhüllt haben und nicht, wie er es sich in der eingangs zitierten Hymne gewünscht hatte, van-Gelder-Bütten.

Der dreibändige Auktionskatalog ist also heute die einzige Möglichkeit, um Karl Wolfskehl im Spiegel seiner Bibliothek zu begegnen. Er liest sich »keineswegs nur als ein beeindruckendes Bücherverzeichnis, sondern als eine veritable intellektuelle Biographie eines exzentrischen Sammlers und Denkers im frühen 20. Jahrhundert«, wie es Michael Thimann in seinem Aufsatz Karl Wolfskehl im Spiegel seiner Bibliothek11 formuliert hat.

Dabei gilt auch für Wolfskehl selbst das, was er 1924 in seinem Vorwort zum Katalog der Sammlung Manheimer geschrieben hat:

Nicht sehr häufig ist in Deutschland der Typ des Gelehrten, der zugleich Bücherfreund, Büchersammler ist, im besonderen Sinn des Wortes. Dem Bücher nicht nur Arbeitsmaterial sind, nicht nur Inhaltsvermittler […]. So ist es denn  zweifellos eine moralische Verpflichtung, sich mit Büchern ›richtig‹ abzugeben, gemeinhin ausgedrückt, sie nicht nur zu brauchen, sondern sie auch zu lieben, noch über die selbstverständliche Erhaltungspflicht hinaus für sie zu sorgen. Auch ihnen die richtige Gesellschaft zu geben, sie miteinander zu verbinden zu einer Einheit.12

Genau das hat der Sammler Wolfskehl mit seiner eigenen Bibliothek eingelöst. Seine Sammlung war die eines Forschers und die eines Liebhabers. Sie vereinte die deutsche Literatur ab dem 18. Jahrhundert in Erstausgaben; ihr Schwerpunkt lag aber bei den umfangreichen Sammlungen zur Lieddichtung und zur deutschen Barockliteratur. Der bereits mehrfach erwähnte Katalog der Sammlung Manheimer legt von Wolfskehls überragenden Kenntnissen auf diesem Gebiet beredte Kunde ab.

Auch der Briefwechsel Wolfskehls mit seinem Freund und Kollegen Friedrich Gundolf steckt voller Mitteilungen über bibliophile Glücksfunde. Dazu gehörte auch die Erwerbung einer von Martin Opitz eigenhändig annotierten späthumanis- tischen Ovidausgabe als Ausgangspunkt für Wolfskehls – teilweise nur geplante – Arbeiten zur Stellung von Opitz, zum deutschen Sonett und generell zur deutschen Renaissance- und Barockliteratur. Diese wertvolle annotierte Ovid-Ausgabe wurde übrigens bei der Versteigerung 1975 von dem Barockforscher Martin Bircher erworben und ist daher heute Bestandteil seiner Sammlung in der Bibliothek der University of California in Berkeley.

Wolfskehls Verhältnis zu den Antiquaren – er korrespondierte mit fast allen von ihnen als Käufer und als Berater – wird am deutlichsten in seinem Nachruf auf Ludwig Rosenthal, der 1929 in der Frankfurter Zeitung erschienen ist.

Wolfskehl schrieb über diesen Nachruf an Friedrich Gundolf: »Das Kränzlein auf den trefflichen Alt-Bücherjuden war bestellt von der Red[aktion]. Aber ich flocht es gern, denn er war ein wunderbares Gemisch von Herr und Hausierer, von Liebhaber und Handelsmensch, von Shylock und Onkel Jason.«13  Welch treffliche Beschreibung für die Mischung aus Kunst und Kommerz, die den Berufsstand der Antiquare auszeichnet! Unter dem Titel Der alte Antiquar hat Wolfskehl diesen Nachruf auch in seine berühmte Sammlung von Aufsätzen zur Bibliophilie aufge- nommen, die, wie bereits erwähnt, 1932 unter dem Titel Bücher, Bücher, Bücher, Bücher auf der Rupprechtpresse gedruckt wurden.14

Unsere Eingangshymne bildet den Auftakt und das Motto des Buches; zugleich leiht sie ihm auch den Titel. Übrigens hat Wolfskehl seinen Lobgesang für die Buchausgabe überarbeitet. Während es im Erstdruck für die Münchner Bibliophilen noch heißt »Zärter noch als Mädchenbrüste | Streichl’ ich ein geliebtes Buch«, sind die »Brüste« nun in »Wangen« korrigiert und damit sozusagen entschärft.

Doch zurück zu den Elementen der Bücherliebeskunst. Wolfskehls Elemente behandeln alle wichtigen Aspekte der Bibliophilie und sollten eigentlich das tägliche Brevier jedes echten Bücherfreundes bilden. Die Fülle an Kenntnissen und Erkenntnissen, die derVerfasser vor unseren lesenden Augen ausbreitet, ist unendlich groß und kann hier nicht einmal annähernd referiert werden. Sie reicht von philosophischen, ja sogar religiösen Überlegungen bis hin zu praktischen Anweisungen der richtigen Aufstellung von Büchern im Regal – Wolfskehl empfiehlt, Bücher mit Kantenvergoldung mit Watte zu unterlegen – ja, bis hin zu kleineren Schönheitsreparaturen und zu Empfehlungen für das richtige Aufschlagen und Anfassen von Büchern.

Als Beispiel hierfür möchte ich einen von Wolfskehl empfohlenen Gegenstand vorstellen, mit dem ich selbst praktische Erfahrungen gesammelt habe. Als ich 1988 mit den wenigen zur Berufsausübung mir notwendig erscheinenden Utensilien wie Fadenzähler, Maßband, Staubpinsel etc. in ein Münchner Auktionshaus eingetreten bin, brachte ich auch einen Gegenstand mit, der mich sofort dem lauten Gespött meiner Kollegen auslieferte: eine mit mehrfach zusammengelegtem Gardinenbleiband gefüllte längliche Wurst aus zartrosa Samt. Aber natürlich ließ ich mich von dem Spott nicht beirren, denn ich stand ja mit meiner Wurst auf den Schultern eines Riesen, und zwar keinen geringeren als denen von Karl Wolfskehl, meinem »Guru« im richtigen Umgang mit Büchern.

Ich bezog mich also auf den Eröffnungsaufsatz zu Bücher, Bücher, Bücher, Bücher, der den Titel trägt Bibliagogik oder über den erziehlichen Umgang mit Büchern. Dort gibt uns der Meister den ernsten Rat, bejahrte Bücher, um Beschädigungen an ihrem Einband vorzubeugen, niemals zu weit aufzuschlagen:

In freier Hand am besten überhaupt nicht. Man bette das Buch auf eine geeignete Grundfläche, öffne es in einem Winkel von nicht über hundertzwanzig Grad und stütze den aufgeschlagenen Deckel durch eine Widerlage. Soll es geöffnet bleiben, so lässt sich dies auch bei dieser Sperrweite durch den gleichmäßigen Druck einer sogenannten

›Lesewurst‹, eines nicht zu kurzen, mit Schrotkörnern halbstraff gefüllten, am besten aus glättestem Sammet oder Atlas gefertigten Beschwerers mühelos ermöglichen.15 Das Gegengewicht zu solchen praktischen Anweisungen bilden Wolfskehls Überlegungen zum Bücherkult, wie er sie in dem Aufsatz Beruf und Berufung der Bibliophilie in unserer Zeit niedergelegt hat. Mit ihnen will ich meine kleine Betrachtung zu Wolfskehls bibliophilem Wirken vorerst schließen:

Jeder wahre Bibliophile ist ein Priester am Geiste […]. Ein Ahnenkultus zartester, stillster Art, das ist echte Bibliophilie. Ein Ahnenkultus, der das Gewesene leibhaft uns verbindet, ja verbündet. […] So haben wir Bibliophilen denn geradezu einen heiligen Auftrag, einen Auftrag, der

über die gesteckten Grenzen hinaus Heil bringen, Unheil verhüten kann.16

Große Worte – die allerdings bereits bei ihrem ersten Erscheinen 1932 von einem ganz anderem »Heil!«-Geschrei laut übertönt wurden; das folgende Unheil ließ sich auch durch die angesprochenen Bibliophilen nicht verhüten.

Wie bereits erwähnt, gehörte zu Wolfskehls engerem bibliophilen Freundeskreis auch der elf Jahre jüngere Carl Georg von Maassen. Wolfskehl veröffentlichte über ihn 1930 im Jahrbuch  deutscher Bibliophilen  ein feingefühltes Charakterbild des Menschen und Büchersammlers, aus dem wir später noch zitieren wollen. Sein Titel lautete: Der platonische Epikureer.17

Carl Georg von Maassen  (1880 –1940)

Wenn wir heute etwas über das bibliophile Leben und Wirken Carl Georg von Massens erfahren wollen, so eröffnen sich uns mehrere Wege. Wir können etwa in der Universitätsbibliothek München seinen – in einem gedruckten Katalog18 erschlossenen – Nachlaß und seine berühmte Bibliothek in Augenschein nehmen. Oder wir nehmen den 1966 von Maassens Freund Carl Graf von Klinckowstroem herausgegebenen Sammelband Der grundgescheute Antiquarius zur Hand. Dort sind Maassens Arbeiten aus der zwischen 1920 und 1923 von ihm herausgegebenen gleichnamigen Zeitschrift gesammelt.

In dem 1928 entstandenen Schlüsseltext Wie meine Bibliothek entstand hat Maas sen seine eigene Haltung zur Bibliophilie dargelegt:

Was meine eigene bescheidene Person betrifft, so bin ich auf die Bezeichnung Bibliophile gar nicht versessen. Denn mit dem Begriff der Bibliophilie verbindet sich ein wenig der des Snobismus, wozu auch eine nicht eben unbeträchtliche Wohlhabenheit und eine kräftige Dosis geschäftigen Müßiggangs erforderlich ist. Äußerst selten aber verbindet sich damit auch die Tätigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens. Heute noch viel seltener als vor hundert oder zweihundert Jahren […]. Betritt heute ein Besucher meinen Bibliotheksraum, dann gewähren ihm die vier Wände, die vom Boden bis zur Decke nur dichtgefüllte Regale aufweisen, gewiß den Anblick einer fein abgestimmten, in diskreten Farben gehaltenen Tapete. Die dunkelfarbigen, mit warmem Goldton überhauchten alten Einbandrücken legen Frieden und Andacht in seine Seele, vielleicht auch ein bisschen Ehrfurcht vor all den geistigen Genüssen, die sie bergen.19

Diese autobiographische Passage deckt sich in überraschender Weise mit dem, was wir aus dem 1930 erschienenen Schlüsselroman von Willy Seidel, Jossa und die Junggesellen, ein heiterer Roman aus dem heutigen Schwabing  erfahren. Dessen Hauptfigur, der Privatgelehrte Ulrich von Uzbach, ist dort niemand Anderer als unser Carl Georg von Maassen. Auch im Roman findet sich eine Schilderung der berühmten Wohnung Maassens in der Friedrichstraße 21 Parterre – denn auch Maassen musste, ebenso wie Wolfskehl, die günstige Statik über den Kellergewölben für die Aufstellung seiner schweren Regale ausnutzen. Man kam dort – wie es im Roman heißt – durch einen Flur zunächst in ein fensterloses Zimmer mit bräunlichen Wänden, bis man mit einer leichten Gänsehaut erkannte: die Tapete war gar keine Tapete. Es waren Bücherrücken, unendliche Bücherrücken. Mit goldenen Buchstaben oder Schmuckstempeln bedruckt. Diese Bücher, in mindestens zwanzig Reihen, türmten sich bis an die Decke. Ja, sie schmiegten sich noch an diese schwarzgeschmauchte ecke, bildeten eine kompakte Masse, fraßen jeden leeren Fleck, krochen auf Borten [so!] über die Türen, – ein einziges, mächtiges, unerhörtes Gewimmel von Titeln. Berühmt, verschollen, absurd oder schlicht. In Goldpressung, auf Leder, oder geklebt auf marmorierte Pappe. Mit grünen, blauen oder gelben Nummernschildchen phantastisch sorgsam beklebt, […] ausschließlich nur Erstausgaben, Unika, Widmungsexemplare, […] schwerstes bibliophiles Geschütz in Reihen und Reihen getürmt bis in die Spinnweblaken der ohlschwarzen Decke hinauf.

Geschildert wird auch Maassens Arbeitstisch mit den berühmten, noch heute erhaltenen, Zettelkästen, in denen er die Annotationen zur historisch-kritischen E. T. A. Hoffmann-Ausgabe zu sammeln und zu bändigen versuchte. Dieser Versuch scheiterte freilich auf sehr bezeichnende Weise!

Maassens bohemienhafter Lebensstil brachte die Gewohnheit mit sich, von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends zu schlafen, dann einzukaufen, zu frühstücken, bis Mitternacht auszugehen und anschließend bis in die hellen Morgenstunden seine schriftstellerischen und editorischen Aufgaben zu erledigen. Ein weniger sybaritischer Tagesablauf hätte wahrscheinlich Maassens wissenschaftliche Arbeiten schneller voranschreiten lassen.

Willy Seidel schildert in seinem Roman auch einen der berühmten feuchtfröhlichen Feuerzangenbowlen-Abende bei Maassen – von denen sage und  schreibe 185 in Maassens Gästebüchern dokumentiert sind – und es verwundert wohl kaum, dass dabei auch Karl Wolfskehl und Rolf von Hoerschelmann als Gäste auftreten – Wolfskehl als Maassens bzw. Uzbachs bester Freund »Schweikhardt Gundermann«. Er wird so eingeführt:

Seine Kurzsichtigkeit war derartig, dass er trotz stärkster Linsen bereits auf anderthalb Meter Entfernung lediglich Konturen sah, die er aber mit feinfühligstem seelischen Tastsinn auszufüllen verstand. –So fand er sich in der Welt zurecht auf irgendwie hellseherische Art. […] Ein mächtiger Charakterkopf, von dunklem Lockenhaar umflutet, krönte diese turmhohe Gestalt und hätte ihr auch ohne den schweren Körper und ohne das Wolkenhafte des Wesens Distinktion verliehen. […] Das kam daher, weil er einen gewissen insbrünstigen Humor besaß. Nie biß oder zankte dieser Humor; er streichelte nur die Dinge und zupfte sie zurecht.

Soweit Seidels dichterische Charakteristik des hünenhaften Wolfskehl, dem er sogleich als Antipoden den Sammlerfreund Rolf von Hoerschelmann unter dem nom de guerre »Hasso von Klösterlein« beigesellt. Das Romankonterfei entspricht bis ins Detail dem zwergenhaften Künstler:

Von Klösterlein war zwerghaft klein; was ihm aber an Figur fehlte, ersetzte er durch eine äußerst schlagfertige Zunge baltischer Observanz, ein aggressiv-hüpfendes Organ, das aber bei seiner Umwerbung von Bilderhändlern sanft gedehnt werden konnte wie ein Gummiband. Freilich blieben seine Augen auch dann noch sehr lebhaft und hüpften um die Wette mit seinen Worten.

Wir werden später über Hoerschelmann noch mehr hören. Doch von der romanhaften Charakterisierung zurück zu den Tatsachen.Carl Georg von Maassen wurde 1880 in Hamburg als einziger Sohn wohlhaben- der Eltern geboren. So konnte er sich nach juristischen und philosophischen Studien 1904 als Privatgelehrter in München niederlassen. Bald verkehrte er mit Schwabinger Literaten und Künstlern und veröffentlichte Satiren und Grotesken im Simplicissimus. Schon als Gymnasiast hatte Maassen mit dem Aufbau einer Bibliothek begonnen, die schließlich auf 5000 bibliographische Titel mit geschätzten 8000 Bänden anwuchs und ihren  Schwerpunkt  in der Literatur  der deutschen  Klassik, Romantik und Spätromantik hatte. Durch umfassende Lektüre und Exzerpte auf Karteikarten erarbeitete sich Maassen den Ruf eines überragenden Kenners der deutschen romantischen Literatur und profilierte sich mit einer Reihe von Editionen. Am wichtigsten ist seine historisch-kritische E. T. A. Hoffmann-Ausgabe, von der 1908 –28 neun der geplanten fünfzehn Bände in vornehmer Ausstattung bei Georg Müller erschienen sind. Daneben erarbeitete er neue Ausgaben der Werke von Contessa, Fouqué, Hauff, Immermann, Schummel, Tieck, Weisflog und Wezel. Auch wenn die Hoffmann-Ausgabe, wie Wolfskehl es nennt, »ewig ein michelangelesk gigantischer Torso« geblieben ist, so ist Maassens Name heute fest mit seinem Lebenswerk, diesem – noch einmal Wolfskehl – »Wundererzeugnis der Liebe, der Hingabe  und der Wissenschaft«,  verknüpft.  In den  Jahren  1920 bis  23 gab Maassen praktisch im Alleingang seine legendäre Zeitschrift Der grundgescheute Antiquarius heraus, dessen schönste Aufsätze 1966 noch einmal gesammelt erschienen sind.

Vor diesem Hintergrund ist die bibliophile Vereinigung von 1907 zu sehen. In diesem Jahr gründete Maassen mit Franz Blei, dem Antiquar Ernst Schulte-Strathaus und dem Verleger Hans von Weber die Gesellschaft der Münchner Bibliophilen, die jedoch nur bis 1913 Bestand hatte. Ihre Faschingsfeste erlangten Berühmtheit und werden in den Erinnerungen des Antiquars Horst Stobbe eindrucksvoll geschildert – dazu gleich noch mehr.

Nach dem Verlust seines Vermögens durch die Inflation lebte Maassen von seiner Tätigkeit als Schriftsteller, von der Unterstützung durch Freunde und – man höre und staune – durch die Deutsche Schillerstiftung. Trotz seiner schwierigen materiellen Lage aber hat er seine Bibliothek bewahrt und durch eine großzügige Schenkung an die Universitätsbibliothek München der Nachwelt erhalten.

Schon 1930 legte Willy Seidel seiner entsprechenden Romanfigur folgende Worte in den Mund:

Den Wert dieser Bücher wollen Sie wissen? Gar nicht abzuschätzen. Ein Vermögen. Gehungert habe ich, gelitten und gefroren. Aber nicht ein Buch habe ich verscheuert. Nicht eins. Alles hat die Inflation gefressen. Aber mit Zähnen und Klauen habe ich mich an diese Bücher geklammert. Nun stehen sie da in lückenloser Reihe […] da stehen sie! – Wie einen Klotz aus Granit habe ich meine Bibliothek in den Weg der Zunft gewälzt.

Auch Karl Wolfskehl rühmt die Bibliothek in seinem unnachahmlich eigenen Ton:

»An dieser Bibliothek mögt ihr ermessen, wie Liebe und Wissen, Hingabe und Schau sich gegenseitig befruchten und was solch ein Erosspiel zeitigen kann! Ermessen mögt ihr auch, was insonderheit Bücherliebe ist und vermag.«20   Er weist auf  die Reichhaltigkeit der Bestände hin, besonders für die Erscheinungsjahre 1770 bis 1830 und hier wieder besonders bei der Trivialliteratur und den Ephemera: »Kaum eine öffentliche Bibliothek hat bis in unsere Tage hinein […] sich ernstlich um dies Kleinzeug gekümmert, und so ist eine Sammlung wie die Maassensche von geradezu einzigem Kultur- und Geisteswert. Herrlich, dass sie da ist […].«21

Ja, es ist in der Tat herrlich, dass diese Sammlung noch immer und weiterhin da ist und nicht nur in der Universitätsbibliothek München ihren Platz gefunden hat, sondern auch seit 1997 in einem zweibändigen gedruckten Katalog verzeichnet ist22, wenngleich einige der darin enthaltenen bibliographischen Aufnahmen einer strengeren Überprüfung durch Fachgenossen nicht standhalten. Bei der reinen Durchmusterung der streng alphabetisch geordneten, nüchternen bibliothekarischen Titelaufnahmen mischt sich sogar eine gewisse Enttäuschung unter das Wohlwollen, und man wird das Gefühl nie ganz los, dass von Maassens Bibliothek von ihm und seinen Sammlerfreunden in ihrem Wert vielleicht doch überschätzt worden sein könnte. Doch wir wollen hier nicht beckmessern, sondern lieber mit Wolfskehl streicheln und zurechtzupfen.

Hat doch der Sammlerfreund Karl Wolfskehl in seinem einfühlsamen Essay Der platonische Epikureer im Jahrbuch deutscher Bibliophilen 1930 dem Phänomen Maassen nachgespürt. Er feiert ihn hymnisch als Nachfahre und Jünger von Platon und Epikur, als »leuchtendes Exempel der echten gaya scienza«, der von Nietzsche ausgerufenen ›Fröhlichen Wissenschaft‹, als den 

"vielleicht letzten Glaubenszeugen der lieblichsten und lockendsten aller Künste, der Kunst der Lebensfreude, […] die ihre Vertrauten hebt, schmeidigt und wohlgefällig macht. […] Der große und gerechte Ruf seiner einzigartigen Gelehrsamkeit auf wichtigstem Teilgebiete deutscher Geistesgeschichte, einer unerhört ins Einzelne gehenden, das Verschollene mit dem Spürsinn der Liebe schatzhebenden Sachkunde, ist ja selbst, Bewunderung abnötigend, bis zu den engbrüstigsten Kathedern gedrungen. Und Maassen […] ist heute unser bester, ja, unser einziger durchaus zuverlässiger Kenner der deutschen Romantik von ihren Gipfeln bis zu den letzten Niederungen und äußersten Ausläufern […]."23

Maassen Tod war so außergewöhnlich wie seine Sammlung und seine Lebensführung. Herbert Günther schrieb darüber 1957: »Obwohl er zeit seines Lebens jedes politische Engagement vermieden hatte, geriet er in einem Schwabinger Lokal in Streit  mit einem  parteihörigen  Kellner,  der ihn bei  Glatteis  mit einem Tritt  so unsanft vor die Tür setzte, dass er am 22. Dezember 1940 an den Folgen des Sturzes starb.«

Noch weitgehend unbearbeitet ist der schriftliche Nachlass von Maassen, der ebenfalls in der Universitätsbibliothek München aufbewahrt wird und von dem Cornelia Töpelmann in dem bereits genannten Bestandskatalog ein erstes Verzeichnis gegeben hat. Vielleicht findet sich dereinst aus dem Kreise der heute Anwesenden jemand, der Maassens Tagebücher, seine Antiquariatsrechnungen oder seine umfangreichen Korrespondenzen mit Antiquaren, Bibliophilengesellschaften, Schriftstellern, Musikern und Künstlern sichtet und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. Es wäre sehr zu wünschen!

Rolf von Hoerschelmann (1885–1947)

In den bereits erwähnten Gästebüchern Maassens findet sich neben den eingetragenen Widmungen auch eine Anzahl von fröhlichen, lebenslustigen Federzeichnungen in eigenwilligem Stil und mit der Signatur »RH«. Sie setzen uns auf die Spur des zwergenwüchsigen genialen Sammlers und Illustrators Rolf von Hoerschelmann, der von seinen Zeitgenossen oft als Zwerg Hörschel scherzhaft verhöhnt, von Thomas Mann aber als »Herr vom Hörselberg« ironisch mit der Tannhäusersage in Beziehung gebracht wurde.

Hoerschelmann war zwar kein klassischer Bücher-, sondern mehr Graphik- sammler, dafür aber als Ideengeber, witziger und spitzzüngiger Zeitvertreiber sowie charmanter Konversationspartner in allen bibliophilen Kreisen ein unverzichtbarer und immer gern gesehener Teilnehmer.

Rolf von Hoerschelmann wurde 1885 im baltischen Dorpat geboren und kam 1903 mit seiner verwitweten Mutter Sascha nach München. Der seit seiner Pubertät gesundheitlich labile, an einer Wachstumsstörung leidende junge Mann lebte lange Jahre mit seiner Mutter in einer gemeinsamen Wohnung in der Gedonstraße 8, wo der leidenschaftliche Sammler in seinem berühmt-berüchtigten »Fuchsbau« alles hortete, was mit Papier zu tun hatte und ihm kulturgeschichtlich interessant oder kurios erschien. Hier karikierte er sich selbst als eigenwilliger »Sammelsurius«, hier türmten sich seine graphischen und bibliophilen Sammlungen auf engstem Raum, hier entstand aber auch zugleich ein schon damals viel beachtetes Schwabing-Archiv. Begrenzte pekuniäre Mittel und ein mit der Zeit geschultes Auge ließen die Künstlerhand »zur Wünschelrute« werden. Wie sich der Verleger Reinhard Piper erinnert, pflegte Hoerschelmann »alle Münchner Einkaufsquellen für Graphik dauernd abzu- patrouillieren. Mit Lachen klagte er, dass er von sämtlichen Antiquariatsbeständen nur die untern anderthalb Meter kenne, da er nicht höher hinaufreiche.«24

Dabei hatte Hoerschelmann noch mit um die Dreißig immerhin »einen Schuss getan und es sogar zu Bartwuchs gebracht« – wie Zeitzeugen schreiben und Fotos belegen – für seine Freunde blieb aber er dennoch nur »der kleine Hoerschel«.

Nachdem  Hoerschelmann  zunächst  eine Ausbildung  in den Lehr-  und Versuchsateliers für angewandte und freie Kunst von Hermann Obrist und Wilhelm von Debschitz absolviert hatte, machte er sich einen Namen durch das Entwerfen von Exlibris und arbeitete einige Jahre bei den 1907 von Alexander von Bernus gegründe- ten Schwabinger Schattenspielen als Silhouettenschneider. Dort lernte er Karl Wolfskehl, Emil Preetorius und bald auch den Zeichnerkollegen Alfred Kubin ken- nen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband und der ihn so tief be- eindruckte, dass Hoerschelmann oftmals als »der kleine Kubin« bezeichnet wurde. Dazu erklärte er Folgendes: »Während ich ein harmloser Erzähler und manchmal ein Künder von dem Zauber des Waldes und seiner Märchen wurde – erkannte ich in dem Freunde [also Kubin] von Anfang an den seherischen Magier, dessen Bilderreichtum vom Seelenleben eines ganz einzigartigen und einmaligen Zeitgenossen Kunde gab.«

Als Mitarbeiter der Schwabinger Schattenspiele und des Simplicissimus kam er in Kontakt mit der ersten Garde der Münchner Künstler, der »Crème der Boheme von Schwabing«, darunter Friedrich und Ricarda Huch, Heinrich und Thomas Mann, Richard Dehmel, Hermann Hesse sowie Stefan George, dem »unsichtbaren Lehrmeister«. Weiter traf Hoerschelmann als Stammgast im legendären Café Stefanie sowie als Mitglied verschiedener Vereinigungen mit den damaligen Schwabinger Protagonisten Franziska Gräfin zu Reventlow, Karl Wolfskehl, Carl Georg von Maassen, Ringelnatz, Max Halbe und Erich Mühsam zusammen, um nur die bekanntesten zu nennen. Dem umtriebigen Lebenskünstler gelang, so schreibt Hoerschelmanns Freund, der Maler Max Unold, »wie selten einem das Wunder, sein Leben zu vervielfachen.«

Nach 1945, als den Sechzigjährigen noch einmal für kurze Zeit ein erstaunlicher Schaffensdrang erfasste und er als Illustrator und Sammler wieder gefragt war, fasste er seine köstlichen Aufsätze zu einem Erinnerungsbuch zusammen,  aus dem wir unten noch mehr zitieren wollen. Seine Beziehungen zu den bibliophilen Freunden von früher sorgten sogar für spätes Liebesglück. Mit  Elisabeth, genannt »Lisel«, Bachmair (geb. Zeller), der zweiten, sehr jungen Frau des bibliophilenVereinsfreundes und Verlegers Heinrich Franz Seraph Bachmair, entwickelte sich eine starke Beziehung. Sie nannte ihn »Pappilein«, er zeichnete sie unzählige Male und schließlich pflegte sie den kranken Hoerschel zu Tode und erledigte die Trauerkorrespondenz.

Als Privatdruck veröffentlichte Lisel im Verlag ihres Mannes einen Bericht über die letzten Tage Hoerschelmanns, den sie schon vorher als Brief an Freunde versandt hatte. Hermann Hesse schrieb ihr daraufhin am 2. April 1947: »Er ist drüben, er ist befreit, und er hat bis zuletzt sich bewährt und Treue gehalten. Damit rückt er für mich in die Reihe jener Freunde, die mir beinahe näher sind und mit denen ich mehr Umgang pflege als mit jenen, die noch leben […].«25

Und selbst der alte Freund Wolfskehl vermeldete aus dem fernen Neuseeland Interesse, obgleich er kurz vorher noch Hoerschelmanns Schwabing-Erinnerungen grantig als »Nachgeschmatz verklungenen Halbschwabings mit aufgeputztem Geist, frisiertem Künstlertum und artifizieller Genialität« kommentiert hatte:

Man schrieb mir neulich, Hoerschelmanns Nachlass werde von Herrn [Wilhelm] Hausenstein gesichtet. Gern wüsst ich, ob die ganz einzigartigen Sammlungen, die der mehr finderische als erfinderische Zwerg in unermüdlicher Suchlust zusammengehamstert hatte, noch da sind. Sie gehörten als Ganzes unter die Obhut einer musealen Kunststätte. Solche gibt es doch  noch?26

Ja, solche gab es zwar noch – aber dennoch wurde der Nachlass Hoerschelmanns zerrissen: ein Teil seiner Schwabing-Sammlung liegt immer noch großenteils unbearbeitet im Münchner Stadtmuseum, ein Rest seiner Korrespondenz in der Monacensia der Münchner Stadtbibliothek, seine Sammlung an Künstlergraphik im Bayerischen Nationalmuseum und sein künstlerischer Nachlass – soweit er nicht vor einigen Jahren in München versteigert werden konnte – seit kurzem im Archiv der Gemeinde Feldafing am Starnberger See.

Rolf von Hoerschelmann starb am 12. März 1947 und wurde auf dem Feldafinger Friedhof begraben. Erst im Oktober desselben Jahres erschien die erwähnte Sammlung seiner Aufsätze, an deren Herausgabe er bis zuletzt gearbeitet hatte, unter dem Titel Leben ohne Alltag. Was er darunter verstanden hatte, verrät er uns gleichfalls: »Freiheit von jedem Zwang und die Möglichkeit, eine Lieblingsbeschäftigung als Beruf auszuüben.«

Unter den Bibliophilen gilt der »Sammelsurius« Rolf von Hoerschelmann allerdings trotz der Zerstreuung seiner wertvollen Schätze in seiner Mischung aus Alberich und Barockengelchen als besonderer Schutzpatron.

Die Gesellschaft der Münchner Bibliophilen 1907–1913

Während sich die deutschen Bibliophilen überregional am 1. Januar 1899 zur Gesellschaft der Bibliophilen und 1911 zur Maximilian-Gesellschaft zusammengeschlossen haben – beide Vereinigungen bestehen noch heute –, hatten die regionalen Vereinigungen wechselhaftere Geschicke. Nur von 1903 bis 1906 bestand eine Vereinigung schlesischer Bücherfreunde; 1904 gründete sich der Leipziger, ein Jahr später der Berliner Bibliophilen-Abend – beide arbeiten ebenfalls heute noch – bzw. wieder.

Die Münchner Sammler standen, beflügelt von der freisinnigen Schwabinger Geselligkeit, auch ohne Bindung an einen förmlichen Verein schon in einem regen persönlichem Kontakt.

Jedoch erst 1907 schlossen sie sich nach dem Vorbild der Leipziger und Berliner zur Gesellschaft der Münchner Bibliophilen zusammen. Es war ein illustrer Kreis von Mitgliedern, der sich dort zusammenfand. Außer unserem Dreigestirn, bestehend aus Wolfskehl, Maassen und Hoerschelmann gehörten zu den prominenten Mitgliedern etwa der bereits im Zusammenhang mit Hoerschelmann erwähnte Schriftsteller  und Verleger  Heinrich  Franz  Seraph  Bachmair  (1889 –1960), der Schriftsteller Alexander von Bernus (1880 –1965), der zusammen mit Wolfskehl und Hoerschelmann die Schwabinger Schattenspiele betrieben hatte, der Literat Franz Blei (1871–1942), von dem die Anregung für die Gründung ausgegangen war und der für Maassen den Titel Der grundgescheute Antiquarius ersonnen hatte, der bereits erwähnte Barockliteratursammler Victor Manheimer, der Dichter und Revolutionär Erich Mühsam (1878 –1934), die Verleger Georg Müller (1877–1917) und Hans von Weber (1872 –1924) sowie  die Antiquare  Julius  Halle  (1864 –1927), Emil Hirsch (1866 –1950), Ludwig Rosenthal  (1840 –1928) und sein  jüngerer  Bruder  Jacques (1854 –1937), um nur einige zu nennen.

Hauptaugenmerk der Gesellschaft der Münchner Bibliophilen waren die ge- schmackvollen Veröffentlichungen, die nur für Mitglieder erhältlich waren und nicht in den Handel gebracht werden durften, wie die Satzung vorschrieb. Den Vorsitz der Gesellschaft  hatte  zuerst  Maassen,  dann  ab 1912 der Rechtsanwalt  Maximilian Brantl – dessen Nachlass vor wenigen Jahren mit Einschluss der auf Thomas Mann bezüglichen Stücke in München unter den Hammer gekommen ist. Als Sekretär und Geschäftsführer diente der angesehene und beliebte Antiquar Emil Hirsch und nach 1912 Horst Stobbe. Die Mitgliederzahl stieg von 1908 bis 1911 von 33 auf 46 an. Es war also ein relativ kleiner Freundeskreis, der sich hier traf.

Unter  dem  vielsagenden  Titel  Allotria hat  Rolf von Hoerschelmann  seine Erinnerungen  an die  Münchner  Bibliophilen  und »allerlei  geistig  beschwingten Unfug«, bei dem sich »Geist und Witz […] mit einer nicht alltäglichen Bildung paar- ten«, notiert und veröffentlicht:

Es waren Menschen um die Dreißig und darüber, die Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung liebten und sich vorwiegend aus diesem Grunde zusammenfanden. […] Wenn die Zusammenkünfte dieses Klubs oft auch von bibliophilem Ernst getragen waren, so freute man sich doch ehrlich das ganze Jahr über auf die Fastnachtssitzung, wo Humor herrschte, Bacchus das Szepter führte und Autoren und Gelehrte samt ihren Büchern zur Zielscheibe des Spotts wurden.27

Unter diesen Faschingspublikationen, bei denen der Witz mächtig ins Kraut schoss, ragt die Festgabe von 1908 heraus, ein Heft in grauem Umschlag und mit einem Dutzend äußerst geschickt gefälschter bzw. parodierter Klassikerbriefe. Weder Lessing noch Lichtenberg, weder Goethe noch Fichte, weder Heine noch Grabbe und schon gar nicht der bestgehasste Max Halbe waren vor der parodistischen Feder Maassens und seiner Gesinnungsfreunde sicher. Sogar bedeutende Germanisten nahmen den Ulk in der Folge für bare Münze und hielten die Briefe für echt, so dass noch 1958 der Zürcher Bibliothekar Paul Scherrer (1900 –1992) streng urteilte: »Obwohl […] nicht im Handel erhältlich, stiftete dieser literarische Ulk Verwirrung und überschritt damit die Grenze des zulässigen Unfugs auch für viele, die dem Humor im Buche durchaus ein ausgedehntes Recht zusprechen.«

Einsame Spitze war allerdings eine von Blei, Maassen, Klinckowstroem und Schulte-Strathaus gemeinsam »in vollendeter Täuschung hergestellte Doktordissertation, deren Titel lautete: Über den Lyrismus bei Max Halbe in seinen Beziehungen zur Anakreontik der Spätromantiker«. Übrigens versteckten sich in der Angabe des Verfassers und des Druckers, nämlich »Gussie McBill. Henheloe (N. C.). Print D. Halfbeer« als Anagramm die Worte Gesellschaft der Münchner Bibliophilen!

Auch das angeblich nervenzerfetzende bibliophile Drama Irma,  ein Fragment geht hauptsächlich auf Maassens Konto, der es zusammen mit seinen Vereinsgenossen Reinhard Köster, Max Unold und Rolf von Hoerschelmann in vier durchzechten Nächten zu Papier gebracht hat. Im Fasching 1913 wurde der Druck verteilt und der Text szenisch vorgetragen. Hier kann daraus leider nur eine sehr kurze Kostprobe gegeben werden.

Sie spielt im Antiquariat von Emil Hirsch in der Karlstraße und die Regieanweisung lautet:

(Hirsch und [sein Mitarbeiter] Büchler sind damit beschäftigt, die Preise zu erhöhen. Eine alte Dame in Trauer tritt ein und bietet ein Goethemanuskript zum Kaufe.) – Hirsch: Mein Gott, Goethe! – Immer dieser Goethe! Wissen Sie, gnädige Frau, der geht bei mir gar nicht. – Wieviel wollen Sie denn dafür haben? – (Die alte Dame schweigt.) – Hirsch: Nein, unmöglich, das kann ich nicht dafür bezahlen. – (Die alte Dame bricht in Schluchzen aus.) – Hirsch (sehr freundlich): Na lassen Sie’s mal da. Ich würde allenfalls hundert Mark dafür geben. Das ist aber gut bezahlt! – (Die alte Dame nimmt weinend die hundert Mark und geht still zum Laden heraus.) […] Anton Kippenberg (tritt auf, geschäftsmäßig): Haben Sie Goethe? […] Heraus damit! […] (Kippenberg ergreift das auf dem Laden- tisch liegende Manuskript und prüft es eingehend): Ich biete tausend Mark! – Hirsch: Nein, nein, das kann ich nicht, das tu ich nicht. – Kippenberg: Zweitausend! […] Hirsch (mit einem Blick nach oben). Goethe, mein Goethe! – [Der ebenfalls anwesende Antiquar Julius] Halle (erhebt sich): Du verkaufst deinen Goethe?! – (Verachtungsvoll ab. Hirsch und Büchler erhöhen die Preise).28

Soweit das (sich angeblich heute noch hin und wieder ähnlich vollziehende) bibliophile Drama Irma.

Trotz oder vielleicht auch wegen des köstlichen Faschingsulks, den die Münchner Bibliophilen  veranstalteten,  wie  etwa  dem berühmten  von Hoerschelmann anschaulich geschilderten »Gespensterfest«, kam es 1913 zur Auflösung. Hoerschelmann schildert die Hintergründe der Auflösung so:

Es war nun unausbleiblich, dass sich die Bibliophilen-Abende nach Absolvierung der ernsthaften Programmpunkte bis in den hellen Morgen auszudehnen begannen, zudem eine kleine Gruppe von Unentwegten, sich um Maassen scharend, langsam tonangebend wurde und den Schwerpunkt nach ihrer Richtung zu verschieben schien. Außerhalb der Gesellschaft stehende Gesinnungsgenossen schlossen sich an, und so begann eine mutwillige Nebenregierung unsolider Elemente. Das führte schließlich zur Auflösung dieser ersten und weitaus merkwürdigsten bibliophilen Gesellschaft Münchens.29

Diese Auflösung wurde in einer förmlichen Sitzung am 11. Dezember 1913 beschlossen.

Intermezzo  1913–1923

Erst nach einer längeren Pause, während der Carl Georg von Maassen seine humortollen Schäflein in mehr oder weniger privaten Gaudivereinen um sich geschart hatte, schloss sich 1923 wiederum eine Gesellschaft der Münchner Bücherfreunde zusammen. Maassens Clubs hatten sich, wie wir gehört haben, weniger der Bibliophilie, als der übermütigen geselligen Allotria verschrieben und hörten auf Namen wie Hermetische Gesellschaft oder gar Verein süddeutscher Bühnen-Künstler, dessen einziger Satzungsparagraph lautete, dass Süddeutschen und Bühnenkünstlern die Mitgliedschaft untersagt sei – aber auch dieser Paragraph wurde natürlich nicht streng eingehalten.

Es verwundert kaum, dass sich auch Maassen selbst in diesen Jahren verstärkt einem anderen seiner Interessensgebiete zuwendete, nämlich der Gastrosophie. Gegenstand seiner Aufsätze und Artikel waren nun Der Tod beim Essen, Lucullus und seine Erben oder gar Ernstes und Lustiges um ein Wirtshausschild. Seine Bücher hießen jetzt Weisheit des Essens, Rund um die Kaffeekanne oder, besonders bezeichnend, Trinke nie ein Glas zuwenig!

Die Gesellschaft der Münchner Bücherfreunde 1923–1931

Ein etwas ernsthafterer Kreis ehemaliger Mitglieder aus der vielleicht doch etwas vorschnell und spontan aufgelösten Gesellschaft der Münchner Bibliophilen traf sich nach Kriegsende in der von Horst Stobbe (1884 –1974) im Jahr 1916 etablierten Bücherstube am Siegestor und bildete die Keimzelle für die am 23. März 1923 erfolgte Neugründung der Gesellschaft der Münchner Bücherfreunde. Außer Stobbe selbst und natürlich Carl Georg von Maassen und Rolf von Hoerschelmann gehörten Carl Graf Klinckowstroem, Ernst Schulte-Strathaus, Hanns Floerke, Heinrich Ehlers, Günther Hildebrandt und Willy Wiegand, der Leiter der Bremer Presse, zu den Gründungsmitgliedern. Von hier ging auch die Idee zu den beiden Zeitschriften Die Bücherstube und Der grundgescheute Antiquarius aus, die beide in StobbesVerlag erschienen. Über die Zeitschrift Die Bücherstube hat Heinz Sarkowski im 5. Band der Neuen Folge von Imprimatur 1967 das Wissenswerte zusammengetragen. Die schönsten Aufsätze aus Der grundgescheute Antiquarius – die Titelformulierung geht auf Franz Blei zurück – hat Maassens alter Freund Carl Graf Klinckow- stroem  1966 noch einmal  neu herausgegeben.30   Das Thema  zeigte  erstaunliche Langlebigkeit.

Die Gründung der neuen Gesellschaft fand in den weitläufigen Räumen des Verlages von Kurt Wolff – selber Bibliophile und exzessiver Sammler – in seinen Räumen also an der Königinstraße statt und etablierte Fritz Hellmuth Ehmcke, den künstlerischen Leiter der Rupprecht-Presse, als ersten Vorstand. Die Zahl der Mitglieder wurde auf 75 beschränkt und der Jahresbeitrag auf 10 Goldmark festgesetzt, was zu diesem Zeitpunkt mitten in der Inflation bereits über 40 000 Papiermark entsprach – Tendenz rasch steigend. Man organisierte Vorträge, gab Drucke heraus, veranstaltete eine Ausstellung zur Geschichte des Holzschnitts und feierte sogar bald wieder aufwendige Faschingsfeste.

1925 mussten alle Teilnehmer als Figuren aus E. T. A. Hoffmanns Erzählungen kostümiert im Franziskanerkeller erscheinen, 1926 als Personen aus Thomas Manns Zauberberg in den Räumen der Bücherstube. Nur Thomas Mann selbst entschuldigte sich wegen einer »ernsten Grippe« und wünschte »alles Gute und Schöne für das schauerliche Fest«.

Bis 1930 veranstaltete die Gesellschaft, der später der Bankier und Mäzen Otto Deutsch-Zeltmann vorstand, zahlreiche Vorträge und Feiern, zu denen immer wieder bibliophile Veröffentlichungen erschienen. Horst Stobbe hat in seinen Erinnerungen31  sehr ausführlich darüber berichtet. Dann schliefen die Aktivitäten, besonders auch aus Geldmangel, langsam ein. In Deutschland waren die Golden Twenties nach Krieg und Inflation eben alles andere als golden. Die Mitglieder blie- ben ihre Beiträge schuldig, und als dann auch noch durch die Wirtschaftskrise 1931 die Darmstädter Bank  des Vorstands und Mäzens Otto Deutsch zusammenbrach, war das Schicksal Gesellschaft der Münchner Bücherfreunde besiegelt, obwohl das Mitgliederbuch immer noch über 80 Eintragungen aufwies.

Die letzte Jahresversammlung mit Festessen fand 1930 statt, und es war genau diese Versammlung, auf welcher die zu Beginn zitierte Hymne Wolfskehls mit dem pessimistischen Frontispiz von Karl Arnold zur Verteilung kam. Die politischen Zeitereignisse der untergehenden Weimarer Republik und des bereits heraufziehenden»Dritten Reiches« hatte über den bibliophilen und geselligen Frohsinn die Überhand gewonnen und gesiegt. Horst Stobbe formuliert es in seinen Erinnerungen so: »Das Thema Bücher war verblasst, man sprach nur noch von den Tagesereignissen, von Politik und von dem wirtschaftlichen Desaster.«32  So zeichnete sich schon vorher jene Abwendung von Buch und Kultur ab, die durch den Exodus der zahlreichen jüdischen Mitglieder in den bibliophilen Gesellschaften, in Verlagswesen, Literatur und Kunst dann endgültig und unwiederbringlich besiegelt wurde.

Die Mappe 1926 2008

Eine Sonderstellung nimmt die 1926 gegründete und – dank dem Engagement von Dr. Lotte Roth-Wölfle – noch heute bestehende »freie gesellige Vereinigung« von Buch- und Graphiksammlern und Die Mappe ein (sie ist übrigens nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen Kreis illustrativer Künstler, den Hoerschelmann erwähnt). Gegründet wurde dieVereinigung von dem legendären, in Linz und München agierenden Universalsammler Anton Maximilian Pachinger (1864 –1938).

Die originellsten Schilderungen dieses schillernden Charakters hat uns sein Dichterfreund Fritz von Herzmanovsky-Orlando hinterlassen; aber auch Franz Kafka hat zusammen mit Max Brod die Erotika-Sammlung des Hofrats Pachinger an einem Novembersonntag 1911 in einem Prager Hotel besichtigt und in seinen Tagebüchern eine komische Schilderung dieses Besuches geliefert:

Mit Max [Brod …] zu A. M. Pachinger. Sammler aus Linz, von Kubin empfohlen, 50 Jahre, riesig, turmartige Bewegungen, | wenn er längere Zeit schweigt, beugt man den Kopf, da er ganz schweigt, während er sprechend nicht ganz spricht, | sein Leben besteht aus Sammeln und Koitieren […] Er zieht seine Brieftascheund bewirft uns förmlich mit Exlibris, eigenen und fremden, untermischt mit einem Prospekt seines nächsten Buches […] Er liebt Rubensweiber wie er sagt […] Sehr ergiebiger Fasching in München. Nach dem Meldeamt kommen während des Faschings über6000 Frauen ohne Begleitung nach München offenbar nur um sich koitieren zu lassen. Es sind Verheirathete, Mädchen, Witwen aus ganz Bayern, aber auch aus den angrenzenden Ländern.33

Soweit, wenn auch stark verkürzt, Kafka über Pachinger.

Das umfassendste und prägnanteste Bild des Sammlers hat uns aber wiederum Karl Wolfskehl hinterlassen. In einem Artikel der Süddeutschen Sonntagspost vom 11. November 1928 hat er den »Ohm Pachus«, wie ihn seine Freunde nannten, treffend charakterisiert:

Wer kennt ihn nicht, den König der Sammler, den Berater und Gefährten des Häufleins der Altertumsfreunde, ja ihren Führer, den großen Kenner aller volkskundlichen, kulturgeschichtlichen und Kunst-Antiquitäten Europas? […] Den wotanischen Schlapphut schattig tief über dem spähenden Auge, wandelt er […], gleichmütig scheinbar, in Wahrheit fast schlafwandlerisch entrückt [gemeint ist: über den traditionellen Münchner Trödel- und Antiquitätenmarkt ›Auer Dult‹ …]. Ja, ein Liebender ist er, unser Pachus, und die Freude am Alten, mit dem er sich kennerisch, wählerisch, samm- lerisch umgibt, […] hat ihn allem Leben, auch dem greif-, fühl- und schmeckbarsten, nur näher gebracht […]. Ein universeller Spezialist – ach, vielleicht der letzte Polyhistor alles Gewesenen […].34

Bei den gemeinsamen Abenden der Mappe treffen sich seit 1926 die Freunde alter Bücher, Graphik und Gelegenheitsgraphik, um in geselliger Atmosphäre sich gegen- seitig ihre Schätze zu zeigen und zu erläutern. Das Zauberwort, mit dem diese Abendvorträge von 1926 bis heute angekündigt werden, heißt daher: »Mit Vorzeigungen«. Die Abende der Mappe, zu denen seit nunmehr sechzig Jahren die umtriebige Seniorin des Kreises, Dr. Lotte Roth-Wölfle einlädt, sind der letzte noch existierende Nachglanz der »Blütezeit der Münchner Bibliophilie«.

Ausblick

Natürlich gibt es auch heute bibliophile Vereinigungen, die aktiv sind und die Liebe zum Buch als Sammelgegenstand in die Mitte ihrer Tätigkeit stellen. Aber wir vermissen eben weitestgehend – Ausnahmen bestätigen nur die Regel – die aus einem soliden Privatvermögen schöpfenden Privatgelehrten und Sammelbegabungen ebenso wie die spezielle Bücherliebe, die sich aus derVerbindung von jüdischer Tradition und mitteleuropäischer Kultur entwickelt hatte und die Karl Wolfskehl ein- drucksvoll und wortgewaltig in seiner Betrachtung Die Juden und das Buch – erstmals  übrigens  erschienen  in einem Privatdruck  in nur 25 Exemplaren  für den Antiquar Emil Hirsch 1926 – dargestellt hat.35

So kann es noch  eine Zeit lang dauern, bis die heutigen bibliophilen Vereinigungen das zarte, empfindliche Pflänzchen der Bibliophilie wieder zu einer neuen Blütezeit, wie der oben kurz vorgestellten, aufziehen können. Zu dieser gärtnerisch sehr anspruchsvollen und von Rückschlägen sicher nicht freien Tätigkeit möchte ich uns alle ermutigen und uns eine erfolgreiche Zukunft wünschen.

Anmerkungen 

1  Festvortrag, gehalten in der Bayerischen Staats- bibliothek am 25. Mai 2008, anläßlich der Jahres- versammlung der Gesellschaft der Bibliophilen in München

2  Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. Hrsg. von

M. Ruben. Hamburg 1960, Bd. I, S. 259.

3  Horst Stobbe: Die Gesellschaft der Münchner Bücherfreunde. In: Imprimatur. NF VII (1972), S. 68.

4  Paul Heyse: Gesammelte Werke. Dritte Reihe, Bd. I. Jugenderinnerungen. Stuttgart o. J., S. 169 –173.

5  Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern. Mün- chen 1996, S. 169.

6  Heißerer, S. 9.

7  Heißerer, passim.

8  Kristian Bäthe: Wer wohnte wo in Schwabing? München 1965.

9  Heißerer (wie Anm. 5).

10  Vgl. den Bericht von Margot Ruben in: Imprima- tur. NF V (1967), S. 20ff.

11  In: »O dürft ich Stimme sein, dasVolk zu rütteln!« Leben und Werk von Karl Wolfskehl. Hrsg. von E.-V. Kotowski und G. Mattenklott. Hildesheim

2007, S. 175.

12  Ebd., S. 173.

13  Ebd., S. 184. Onkel Jason ist übrigens eine Romanfigur aus Georg Hermanns Jettchen Gebert, dem, wie es oft heißt, jüdischen Gegenstück zu Thomas Manns Buddenbrooks.

14  Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. Hamburg

1960. Bd. II, S. 538f.

15  Wolfskehl (wie Anm. 14), S. 497.

16  Wolfskehl (wie Anm. 14), S. 555.

17  Wolfskehl (wie Anm. 14), S. 531ff.

18  Die bibliophile Sammlung von Carl Georg von Maassen in der Universitätsbibliothek München. Annotierter Katalog. Puchheim 1997.

19  Carl Georg von Maassen: Der grundgescheute Antiquarius. Hrsg. von Carl von Klinkowstroem. Frechen 1966, S. 37f.

20  Wolfskehl (wie Anm. 14), S. 531ff.

21  Ebda.

22  Wie Anm. 17.

23  Wolfskehl (wie Anm. 14), S. 531ff.

24  Reinhard Piper, mein Leben alsVerleger.

München 1964, S. 504.

25  Angebot des Antiquariats Magister Tinius in

Berlin.

26  12. Oktober 1947, an Maria Laumen in Mün- chen.

27  Rolf von Hoerschelmann: Leben ohne Alltag.

Berlin 1947, S. 156.

28  Horst Stobbe: Die Gesellschaft der Münch-

ner Bibliophilen. In: Imprimatur. NF VI (1969), S. 49f.

29  Hoerschelmann (wie Anm. 27), S. 158.

30  Maassen (wie Anm. 19).

31  Stobbe (wie Anm. 3), S. 45ff.

32  Stobbe (wie Anm. 3), S. 72.

33  Franz Kafka, Tagebücher. Hrsg. von H.-G. Koch u. a. Frankfurt am Main 1990, S. 271ff.

34  Wolfskehl (wie Anm. 14), S. 485ff.

35  Wolfskehl (wie Anm. 14), S. 334 ff.

Festvortrag, gehalten in der Bayerischen Staatsbibliothek am 25. Mai 2008, anlässlich der Jahresversammlung der Gesellschaft der Bibliophilen in München.

Vortrag, gehalten in der bibliophilen Vereinigung Die Mappe (2008), in englischer Übersetzung im Rahmen des Kongresses der Association Internationale de Bibliophilie (AIB) in München (2013) und, in leicht abgewandelter Form, im Münchener Kaufmanns Casino (2014).

Publiziert in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Hrsg. von Ute Schneider und der Gesellschaft der Bibliophilen, München NF XXI (2009). S. 259-286.





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